begriffe:irritabilitaet
Inhaltsverzeichnis
Irritabilität
lat. | irritabilitas | engl. | irritability, excitability | |
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franz. | irritabilité | Gegenbegriffe | ||
Wortfeld | Reiz (und Reaktion), Reizen, Reizung, Reizbarkeit, Reizsamkeit, irritabel, Irritation, Erregbarkeit, Erregung, Sensibilität |
Disziplinäre Begriffe
Material
A. Primärmaterial
1672 | Glisson, Francis (1597-1677): Tractatus de natura substantiae energetica: seu de vita naturae, London, 1672; ders.: Tractatus de ventriculo et intestinis, 1677. Prägung des Begriffs Irritabilität als eine natürliche Erregbarkeit, die sich an den Muskelfasern nachweisen lasse.1) Er schreibt sie gemäß seiner theosophisch-neuplatonischen Grundhaltung allen lebendigen Teilen zu. |
1739 | Zedler, Johann Heinrich: (Art.) Irritieren, in: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 14, S. 670. |
1752 | Haller, Albrecht von (1708-1777): De partibus corporis humani sensilibus et irritabilibus, 1752. Dt.: Sudhoff, K. (Hg.), Albrecht Haller. Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers. Barth, Leipzig, 1922. Haller präzisiert den Begriff in der Art, dass er ihn als "Reizbeantwortungsfähigkeit bzw. Verkürzungsfähigkeit der Muskeln"2) von der Sensibilität als nervliches Empfindungsvermögen abgrenzt. Die experimentelle Klärung der Erscheinungen betreiben erstmals A. v. Haller und sein Schüler J.G. Zimmermannn, indem sie die Gewebe des Körpers systematisch der Reizeinwirkung unterziehen. Haller nennt alle Teile 'irritabel', die sich auf einen Reiz verkürzen, jene dagegen 'sensibel', deren Reizung beim lebenden Tier Schmerzen verursacht. Schon Glisson integrierte den Begriff in ein physiologisches Lebenskonzept und gilt damit als früher Vorläufer der vor allem von Albrecht von Haller geprägten „Irritabilitätslehre“. Nach ihr sind „Irritabilität“ und „Sensibilität“ gewissermaßen „eingepflanzte“ Phänomene des Lebendigen (vires insitae, innatae).3) |
1821 | Artikel 'Irritabilität' in: Medizinisches Realwörterbuch zum Handgebrauch practischer Aerzte und Wundärzte und zu belehrender Nachweisung für gebildete Personen aller Stände. Hg. von D. Johann Friedrich Pierer u. Ludwig Choulant. Erste Abtheilung: Anatomie und Physiologie; vierter Band. Brockhaus, Leipzig, 1821, S. 298-320. "[…] 2) daß Haller eigentlich zuerst den Namen und den bestimmten Begriff der Irritabilität, als Reizbarkeit, Fähigkeit der Muskelfaser, auf gehörigen Reiz sich zusammenzuziehen, festsetzte. […] 4) daß besonders in der neusten Zeit dem Worte Irritabilität eine Bedeutung unterlegt wurde, welche Hallern und den zunächst ihm folgenden Physiologen fremd war. […]" (S. 299.) |
1836 | Artikel 'Reizbarkeit' in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie der gebildeten Stände (Conversations-Lexikon) in zwölf Bänden. Neunter Band. R-Schu. Achte Auflage. Brockhaus; Leipzig, 1836, S. 196-198. "Reizbarkeit nennt man die Eigenschaft des organischen Körpers, durch dynamische Einwirkungen, die man Reize oder Reizmittel nennt, wie z.B. das Licht, zur Thätigkeit angeregt zu werden. Früher erklärte man die Bewegungen der organischen Körper auf mechanische Weise durch Elektrizität, und auf dynamische Art durch unmittelbaren Einfluss der Lebensgeister oder Nerventhätigkeit. Alb. v. Haller (s.d.) unterschied von diesen beiden zuerst die eingepflanzte Kraft der Muskeln, die Reizbarkeit oder Irritabilität, und ist als Schöpfer dieser Lehre zu betrachten. Seine Anhänger beschäftigte vorzüglich die Bestimmung des Verhältnisses der Reizbarkeit und Nerventhätigkeit (Irritabilität und Sensibilität). Wegzuleugnen waren die Haller'schen Erfahrungen gar nicht, sondern nur in einzelnen Theilen zu berichtigen, zu ergänzen und weiter zu verfolgen. Einige Ärtzte sahen aber auch die Reizbarkeit, sowie alle anderen Erscheinungen des Organismus, als abhängig von der Nerventhätigkeit an, und so entstand die sogenannte Nerventheorie; andere fassten die Nerventhätigkeit und Reizbarkeit unter den allgemeinen Begriff der Lebenskraft zusammen. Da nun aber nach und nach das Spiel mit den Kräften, die den Organen nur beiwohnen, keineswegs mit ihnen eins und dasselbe sein sollen, verdächtig werden musste, so fasste Brown (s.d.) beide Begriffe der Sensibilität und Irritabilität unter den der Erregbarkeit zusammen und stellte diesen Begriff als die Grundlage seines berühmt gewordenen Systems auf. Doch konnte sich auf dieser Höhe der so einseitige Begriff der Reizbarkeit, der in der Erregbarkeit nur weiter ausgedehnt erschien, nicht erhalten, und indem in den neuesten Zeiten die Idee des Lebens über alle diese Begriffe gestellt wurde, mußte auch die Reizbarkeit als eine Äußerungsart derselben Idee erscheinen und wurde so auf die ihr eigenthümlichen Erscheinungen beschränkt, ohne weder die anderartigen Lebensäußerungen ihr unterordnen, noch verleugnen zu wollen. Sie führt auch in dieser Beschränkung noch den Namen der Irritabilität, und wird als die Grundäußerung der Idee des Lebens bestimmt, durch welche organische, lebendige, d.h. freie Bewegungen möglich werden. Bezieht die Reproduktion sich vorzugsweise auf Raum und Mischung, so äußert sich die Irritabilität mehr in der Zeit und Bewegung. Das irritable Organ ist daher nach einem anderen Typus gebildet, als die reproductiven Organe; die längliche Fasernbildung ist der Irritabilität eigenthümlich; es ist dieselbe in den Organen ganz vorzüglich sichtbar, wo die Irritabilität am kräftigsten sich äußert, in den Muskeln nämlich und im Herzen. Auch in den Arterien, vorzüglich in den größeren Stämmen derselben und in den Muskelhäuten der Eingeweide, ist dieselbe Bildung sichtbar, ebenso ist sie da zu vermuthen, wo sie, wie in den Venen und Lymphgefäßen, in denen auch die Bewegungen nicht sichtbar ist, vielleicht wegen Kleinheit und der weißen Farbe nicht in die Augen fällt. Nur in einem Organe, das dessenungeachtet sehr lebhafte Bewegungen äußert, in dem Uterus nämlich, hat man sie nicht entdeckt; hier treffen aber auch ganz andere Gesetze zusammen, welche die Bildung dieses Organs abändern und so eine Ausnahme nöthig machen. Die Längenausdehnung einer jeden Faser bringt nothwendig zwei Enden derselben hervor, die sich auch bei den Kreisrunden nicht berühren. Diese beiden Enden stehen in Polarität gegeneinander, sowie überhaupt das Gesetz der Polarität und die Antithesen sich in der Irritabilität ganz besonders vorfinden. Wird nun durch irgend etwas äußeres eine Faser gereizt, d.h. in Thätigkeit gesetzt, so tritt jene Polarität hervor und äußert sich durch abwechselnde Zusammenziehung und Ausdehnung der Fasern oder der Fasernbündel, die zugleich gereizt wurden. Gewöhnlich betrachtet man die Zusammenziehung alleine als Ausdruck der Thätigkeit; allein nicht minder äußert sich dieselbe in der Ausdehnung. In den mehrsten Muskeln erscheint die Zusammenziehung freilich als Zweck, in einigen, die Schließmuskeln, aber auch die Ausdehnung. Ein ähnlicher Gegensatz findet sich in der Anordnung der Muskeln, die sich einander entgegenwirken, und von denen die einen ausgedehnt werden, wenn die anderen sich zusammenziehen. Durch diese abwechselnde Ausdehnung und Zusammenziehung werden dann alle Bewegungen hervorgebracht, die nur vorhanden sind. Sie gehen ohne Unterlaß von statten da, wo die Irritabilität in die Reproduction eingreift, die selbst nie ruhen darf; so in den Unterleibseingeweiden, den Gefäßen und in der Respiration. In den sogenannten willkürlichen Bewegungen dagegen, die sich näher an die Sensibilität anschließen, bedarf die Irritabilität der Sensibilität oder beide zugleich der Ruhe und des Schlafs. Die Reize selbst, welche die Äußerungen der Reizbarkeit hervorrufen, sind sehr mannichfaltig. Dahin gehören in den Gefäßen das Blut und ander Flüssigkeiten, die sich in ihnen befinden; die Flüssigkeiten des Darmkanals sind Reize für die Muskelhaut desselben, die Luft und der Naturtrieb für Muskeln der Respiration; der leztere oder der Wille für die gewöhnlich sogenannten willkürlichen Muskelbewegungen. Auch manche krankhafte Reize, die bald das Organ selbst unmittelbar berühren, bald durch Sympathie auf dasselbe einwirken, bringen krankhafte Bewegungen, die Krämpfe, hervor. In allen diesen Bewegungen ist der Einfluß des Nervensystems ebenso unbedingt nothwendig als die gehörige Ernährung der bewegenden und bewegten Organe." (S. 196-198.) |
B. Sekundärmaterial
Begriffsgeschichtliche Arbeiten
- Rothschuh, K.E.: (Art.) Reizbarkeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel, 1992, Sp. 567 f.
Siehe auch:
- Engels, Eve-Marie: (Art.) Lebenskraft, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg.v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 5, Basel/Stuttgart, 1980, Sp. 122-128.
Sonstige Literatur
- Boschung, Urs: Neurophysiologische Grundlagenforschung "Irritabilität" und "Sensibilität" bei Albrecht von Haller. In: Heinz Schott (Hg.), Meilensteine der Medizin, Dortmund, 1996, S. 242-249.
- Luhmann, Niklas: Die Behandlung von Irraitationen: Abweichung oder Neuheit? In: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4. Frankfurt (Main), 1999, S. 55-100.
- Rudolph, G.: Hallers Lehre von der Irritabilität und Sensibilität, in: Rothschuh (Hg.), Von Boerhave bis Berger, die Entwicklung der kontinentalen Physiologie im 18. und 19. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung der Neurophysiologie. Vorträge des internationalen Symposions zu Münster/Westf., 18.-20. September 1962, Stuttgart, 1964, S. 14-34.
- Singer, A.: Der Begriff der Irritabilität bei Glisson und Haller, 1937.
- Temkin, O.: The classical roots of Glisson’s doctrine of irritation. In: Bulletin of the History of Medicine 38, 1964, S. 297-328.
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