Inhaltsverzeichnis
Reflex
Auch: Reflexion
Von Margarete Vöhringer
lat. | reflexus | engl | reflex, reflection | |
---|---|---|---|---|
franz. | reflet, réflexion | Gegenbegriffe | ||
Wortfeld | Rückstrahlung, Widerschein, Widerspiegelung |
Disziplinäre Begriffe
Reflet (franz.:)
- Kunst: Lichtreflex.
- Physik/ Optik: Lichtreflex allgemein (Licht, das von einem Körper zurückgeworfen wird.) Auch: Das zurückgeworfene Bild, Spiegelbild, Abbild (so auch in der Philosophie und im Marxismus-Leninismus, hier metaphorisch gebraucht.)
Reflexion (franz.):
- Allgemein: Semantisch korrespondierend mit 'réfléchir'.
- Mechanik: In der Bedeutung 'Zurückwerfen an einem Hindernis'.
- Medizin/ Anatomie: Veralteter Gebrauch im Sinne von Abkapselung (in sich selbst).
- Physik/ Optik: Verschiebung, Zurückwerfen an einem Hindernis (in dieser Bedeutung auch in der Akustik).
- Philosophie: Bildungssprachlich zunächst im Sinne von 'Meditation' (über sich selbst), dann: (Selbst-)Reflexion.
Reflex:
- Allgemein: Widerschein, reflektierte Erscheinung.
- Physik: Fachbegriff eines Verfahrens der Röntgenbeugung (Laue-Verfahren).
- Psychologie/ Physiologie: Unwillkürliche Reaktion des Körpers oder der Psyche.
Reflexion:
- Philosophie: Geistige Tätigkeit im Sinne von gründlichem Überlegen und Nachdenken.
- Physik: Zurückwerfen von optischen und akustischen Wellen sowie von Strahlung.
1. Tschachotin
Am 25. Mai 1932 veränderten sich über Nacht die Straßen der Stadt Offenbach. Wo gerade noch in Vorbereitung der hessischen Landtagswahlen Hakenkreuzplakate an den Hausmauern prangten, fand man diese nun mit Kreide durchgestrichen vor – durchgestrichen von drei Pfeilen. (Abb.01) Rote Flaggen mit ebensolchen Pfeilen hingen aus den Fenstern; Flugblätter mit Pfeilen flatterten umher; 10.000 hessische Aktivisten hatten es geschafft, 50.000 Anstecker zu verteilen, die nun von Passanten durch die Straßen getragen wurden (Abb.02); Radfahrer hielten rote Banner in die Luft; das Logo war in linken Zeitschriften abgedruckt (Abb.03)1). Am Ende dieser Propagandaoffensive hatten die Sozialdemokraten 3.300 neue Stimmen gewonnen und nach entsprechenden Einsätzen in Darmstadt, Mainz und Worms den hessischen Wahlkampf für sich entschieden und sich 2 Plätze im Reichstag gesichert. Die Aktivisten gehörten einer militanten Untergruppe der deutschen Sozialdemokraten an, der „Eisernen Front“, die sich im Dezember 1931 gebildet hatte, um die Weimarer Republik im Zweifelsfall militärisch vor dem Nationalsozialismus zu bewahren. Der rote „Dreipfeil“ wurde zu ihrem Symbol und richtete sich gegen Kapitalismus, Faschismus und – Bolschewismus. Der Urheber dieser Kampagne aber war Bolschewist – Sergej Tschachotin, ein Russe, der die so genannte „Technik des symbolischen Krieges“ aus Russland nach Deutschland eingeführt hatte als „die Anwendung der Kenntnisse der modernen Massenpsychologie und der wissenschaftlichen Organisation der Arbeit auf den politischen Kampf der Arbeiterbewegung“,2) die auf nichts anderem beruhen sollte als auf den Entdeckungen des russischen Physiologen Ivan Pavlov, und das heißt: auf bedingten Reflexen.
Der kaum bekannte Russe Tschachotin (Abb. 04) beabsichtigte also mithilfe der Pavlovschen Reflex-Konditionierung über die nationalsozialistische Propaganda aufzuklären – und zugleich ästhetische Gegenmaßnahmen zu entwickeln: „Den Faschisten, die außer sich waren über unsere Zeichenkampagne, blieb nichts anderes übrig, als neue Hakenkreuze an die Wände neben die drei Pfeile zu malen. So entbrannte […] ein eigenartiger psychographischer Guerillakrieg“.3) (Abb. 05) Gemeinsam mit dem Reichstagsmitglied Carlo Mierendorff veröffentlichte Tschachotin 1932 die Broschüre „Grundlagen und Formen politischer Propaganda“, in der die beiden versuchten, möglichst verständlich die wichtigsten Prinzipien der Einflussnahme auf die Psyche der Massen vorzustellen. Denn, davon war der Russe überzeugt, „politisches Handeln ist […] in erster Linie, wie alles menschliche Handeln, eine Form von biologischem Verhalten“4) und darum hoffte er, durch die Vermittlung der „Mechanismen des Verhaltens […]“ eben diese Mechanismen für seine Leser handhabbar zu machen.
Für den Entdecker der bedingten Reflexe Ivan Pavlov stellten sie das Nebenprodukt seiner jahrelangen Forschung zur Verdauung dar, die ihm 1904 den Nobelpreis für Medizin eingebracht hatte. Entstanden als Ergebnis eines entfernten Reizes, der mit einem unbedingten Reflex verbunden wurde, verwies der bedingte Reflex auf indirekte psycho-physiologische Zusammenhänge, die so genau zuvor nicht bestimmbar waren. Zeigte Pavlov einem Hund Futter und spielte ihm zugleich einen Ton vor, reagierte der Hund mit der Zeit schon allein auf den Ton durch die Sekretion von Speichel (Abb. 06, Hund). Verweigerte er dem Hund die Nahrung, verschwand die Speichelsekretion nach kurzer Zeit, auch wenn der Ton erklang. Sie kennen das vermutlich alle… Beide Reaktionen verortete Pavlov im Gehirn als die zwei grundlegenden nervösen Prozesse – Erregung und Hemmung – und vermutete sie in permanentem Kampf miteinander, den es für ein reibungsloses Verhalten auszubalancieren galt. War diese Balance zwischen Erregung und Hemmung gestört, was Tschachotin zufolge durch alle möglichen Faktoren geschehen konnte, wie Erschöpfung, Hypnose, Drogeneinnahme und – für den Propagandisten entscheidend – durch Überreizung, dann setzte die Hemmungsreaktion aus. „Wurde in solchen Zuständen dem Subjekt ein Befehl erteilt, war kein Widerstand möglich.“ Mehr noch, „in einem Zustand physiologischer Schwäche, wirkte die Suggestion über diesen Zustand hinaus.“5) Die Wiederholung von Reizen, ihre Rhythmisierung und vor allem die Gleichzeitigkeit von visuellen und auditiven Erregungen waren die Lektionen, die Tschachotin von Pavlov übernahm, um „menschliche Reaktionen mit einer sicheren Hand willentlich zu steuern […], um Gewohnheiten zu formieren und [Verhalten] zu automatisieren.“6) Ich betone das letzte Wort – automatisieren – nicht zufällig, es ist wichtig für meine späteren Ausführungen zur Herausbildung des Reflexes.
Im Folgenden möchte ich mich nicht mit einer Einzelanalyse dieser Übertragung der Reflexlehre auf die Propaganda befassen, sondern einen überzeitlichen Blick wagen und vergleichbaren Wissensbewegungen nachgehen, wie sie sich im Zusammenhang mit der Geschichte des Reflexes ereignet haben. Der skizzierte Fall stellt dabei einen zentralen Ausgangspunkt dar, 1. da hier der Reflex in dem politisch wohl entscheidendsten Moment des 20. Jahrhunderts in Stellung gebracht wird und 2. da hier die Fragen geradezu offensichtlich werden, die sich dem Blick auf die Praktiken stellen: Unter welchen Umständen wird ein physiologischer Begriff wie der Reflex zu einem technischen Phänomen, zu einer symbolischen Technik? Finden sich die Erklärungen hierfür allein in dem konkreten Kontext, in dem sich der Transfer ereignet und was verraten longue durée Betrachtungen? In den letzten Jahren hat sich die Wissenschaftsgeschichte für Fragen der Kulturwissenschaften geöffnet und an diese Entwicklung möchte ich anknüpfen – also: was haben physiologische Praktiken mit Kunst und Technik zu tun und welche historiographischen Konsequenzen hat diese Frage? Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich meinen Fokus immer weiter aufziehen: von der Hauptfigur Tschachotin auf den engeren Entstehungskontext seiner Praxis in der Sowjetunion über den weiteren disziplinären Kontext der experimentellen Physiologie und Psychotechnik bis hin zur Vor-Geschichte des bedingten Reflexes seit dem 17. Jahrhundert. Das alles muss etwas holzschnittartig geschehen, der Kürze der Zeit wegen, ist aber nötig um den Horizont meiner Frage nach den Praktiken aufzuzeigen.
2. Kontext: Frühe Sowjetunion
Tschachotins Propaganda-Aktion ist bislang weder in der Literatur zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, noch in der Wissenschaftsgeschichte behandelt worden. Wenn überhaupt, dann wird er am Rande von Überblicksstudien zur Arbeiterbewegung erwähnt. Dabei verweist schon sein Lebensweg auf einige berühmte Personen – neben Pavlov war er mit Albert Einstein und Leo Trotzki bekannt – und auf zentrale Wissenszusammenhänge seiner Zeit. So studierte er Anfang des 20. Jahrhunderts Zoologie, Chemie und Physiologie in Moskau, München, Berlin und Heidelberg,7) arbeitete an den zoologischen Laboratorien in Villefranche-sur-Mer und Neapel und erfand ein so genanntes „Strahlenskalpell“, das ihn zu einem Wegbereiter heutiger Lasertechnik macht. 1912 nahm Tschachotin das Angebot an, in St. Petersburg als Pavlovs Assistent zu arbeiten und blieb bis 1920. Seine Absicht war es, die bedingten Reflexe auf niedere Tiere zu übertragen, doch stattdessen reorganisierte er Pavlovs Labor, beschäftigte sich mit ergonomischen Fragen und verfasste eine Bibliographie zur internationalen wissenschaftlichen Arbeitsorganisation. Nach der Oktoberrevolution setzte sich Tschachotin als Propaganda-Leiter auf Seiten der Menschewiki für die Gegenrevolution ein und wurde infolge der Niederschlagung dieser Bewegung des Landes verwiesen. 1930 ermöglichte es ihm ein 3-Jahresstipendium als Gastwissenschaftler am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Heidelberg zu arbeiten. Hier sollte Tschachotin weiter seinen zellbiologischen Studien nachgehen – er geriet aber in die Kreise der Widerstandskämpfer gegen den aufkeimenden Nationalsozialismus, die er leidenschaftlich unterstützte: „Der Faschismus vergewaltigt mit seiner unheilvollen Propaganda die Psyche der Massen. Was können wir tun, um dies zu beenden? Unsere erste Aufgabe ist es, die grundlegenden Mechanismen dieser Propaganda zu verstehen – und dies ist durch die Entdeckungen der objektiven Psychologie meines großen Lehrmeisters Professor Pavlov möglich geworden. Doch auf das Verstehen muss Handeln folgen […].“8)
An Tschachotins Lebenslauf fällt vor allem zweierlei auf: seine Interdisziplinarität und ein Hang zur Praxis. Statt auf den wissenschaftlichen Fortschritt verwies er in seinen Schriften darauf, dass die neuen Propagandamethoden in der „soziologischen Domäne einen immensen Schritt nach vorne gemacht haben.“9) Nicht die analytische Arbeit im Labor, sondern ihre praktische Anwendung schien er als seine Berufung zu verstehen. Letzteres war eine Tendenz, die sich im revolutionären Russland, also in den 1920er Jahren, rasant verbreitet hatte und deren Relevanz für die Einrichtung einer sozialistischen Wissenschaft zu der Zeit, als sich Tschachotin in Russland aufhielt, unermüdlich diskutiert wurde.
Neben der aufzuholenden Industrialisierung standen die Revolutionäre vor der Aufgabe der Verwandlung von Bauern in Arbeiter. Sie alle kennen sicherlich die Rede vom „Neuen Menschen“, der zum einen die neue Gesellschaftsform des Sozialismus erschaffen musste und zugleich ein Effekt der neuen, noch nicht existierenden Welt sein sollte. Zur Lösung dieser paradoxen Situation schienen nur die Wissenschaften vom Menschen in der Lage. Dem entsprechend erweiterte die Sozialistische Akademie der Wissenschaften in den Folgejahren ihren Zuständigkeitsbereich und richtete nach und nach Abteilungen nicht nur für Mathematik und Physik sondern auch für Psychologie, Neurologie und Biologie ein.10) Hier wurden vor allem die Praxis bezogenen Disziplinen programmatisch entworfen – die Arbeitswissenschaften als Anwendungsfeld von Physiologie und Psychologie, die Eugenik als Anwendungsbereich der Genetik und Pavlovs Reflexlehre als Grundlage für die Pädagogik.
Doch nicht Pavlov war es, der sich mit den angewandten Lebenswissenschaften beschäftigte, sondern sein international weniger renommierter, lokal aber einflussreicher Konkurrent – Vladimir Bechterev. An dessen 1907 gegründeten Psycho-neurologischen Institut wurde die Psychologie von Kindern ebenso behandelt wie Ermüdungserscheinungen von Industriearbeitern.11) Bechterevs Lehrplan könnte man geradezu als kulturwissenschaftlich bezeichnen, denn er umfasste neben Soziologie, Ökonomie, Jura und Philosophie auch Literatur und Kunstgeschichte. Er beschäftigte sich zwar auch mit bedingten Reflexen, bezeichnete sie aber als Assoziationsreflexe, was die Reaktionsfähigkeit des menschlichen Organismus betonte, statt, wie bei Pavlov das Bedingte, die Abhängigkeit desselben hervorzuheben.12) Bechterev fand für seine Methode den Terminus Reflexologie, der sich zur „Untersuchung der Reaktionen sowohl auf alle organischen wie auch anorganischen Wesen“ erstrecken sollte, auf Bewegungen ebenso wie auf Gedanken. So verschmolz er physiologisches und psychologisches Wissen zu einem Universalansatz, der sowohl bei Nervenkrankheiten, als auch bei Alkoholabhängigkeit, bei Überarbeitung und bei Sektenzugehörigkeit Abhilfe versprach.13)
Tschachotin hielt sich nun exakt an dem Ort auf, an welchem auch Bechterev seit Jahrzehnten wirkte – an der Petersburger Militärakademie. Hier befand sich Pavlovs erstes Labor, das Tschachotin re-organisieren sollte, während der Nobelpreisträger sein neues „Institut für Experimentelle Medizin“ einzurichten begann. So lassen sich denn bei Tschachotin Gedanken finden, die Bechterev ausbuchstabierte: Zit. Tsch. „Politische Propaganda, die auf denselben Gesetzen beruht wie die bedingten Reflexe […] muss sich mit dem wissenschaftlichen Studium von Reaktionen und ihren Effekten beschäftigen, wenn sie die Massen lenken und zu ihrem Zweck führen will“.14) Hierzu hatte Bechterev die so genannte „Kollektive Reflexologie“ konzipiert,15) deren Ausgangspunkt „die Erforschung des Entstehens, der Entwicklung und der Tätigkeit von Versammlungen [ist], die ihre gemeinsame korrelative Tätigkeit dank dem gemeinschaftlichen Verkehr als ein Ganzes äußert“.16)
Tschachotin griff also von Pavlov die Terminologie und Praxis des bedingten Reflexes auf: das Einsetzen von visuellen Reizen zur Adressierung der Wahrnehmung, das Wiederholen und Kombinieren dieser Reize und die Annahme, auf diese Weise Reflexreaktionen auslösen zu können, die sich im Wiedererkennen von Zeichen und in der positiven oder negativen Konnotation dieser Zeichen äußerten. Von Bechterev aber übernahm Tschachotin die Anwendung der Reflexlehre auf ein Massenpublikum und d.h. auch die Ausweitung des analytischen Ansatzes Pavlovs auf den gesellschaftlichen Raum. Und genau hierin liegt die Entwicklung begründet, die aus physiologischen Praktiken Techniken hat werden lassen – in der Anwendung statt der bloßen Analyse von Experimenten.
3. Kontext: Psychotechnik
Die Anwendung experimenteller Praktiken außerhalb der Labore hat den Anspruch nach sich gezogen, technisch zu sein. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Disziplin „Psychotechnik“, die der Wilhelm Wundt Schüler und Harvard Psychologe Hugo Münsterberg Anfang des 20. Jahrhunderts formuliert hat (Abb. 07, Münst.+Schüler). Die Psychotechnik behauptete die Anwendbarkeit von experimentellen Praktiken aus Physiologie und Psychologie auf alle Bereiche der Kultur, wobei sie sich vor allem an die Arbeiterkultur wandte. Die Arbeit an Maschinen wurde als psychisch gesteuert aufgefasst und daher durch psychologische Tests untersucht, für Eignungstests überprüft und im Bedarfsfall trainiert. Die Physis, also der Körper des Arbeiters schien nur als Befehlsempfänger der Psyche zu gelten, die wiederum von außen nur über die visuelle Wahrnehmung, über das Sehen, adressierbar war.
1914 veröffentliche Münsterberg sein Hauptwerk „Grundzüge der Psychotechnik“, das schon 1923 ins Russische übersetzt wurde. Ihre Blütezeit hatte die Psychotechnik im 1. WK, wo sie der Zuordnung von Soldaten und Piloten an ihre Kriegsgeräte diente. Zwischen den Weltkriegen breitete sich der Ansatz des psychologischen Testens dann in die verschiedensten Bereiche aus – Sekretärinnen, Straßenbahnfahrer, Lehrer, Anwälte, Prediger, Verkäufer, Politiker, Fabrikanten, Naturforscher und Künstler – sie alle sollten von dem psychologischen Wissen profitieren können, das die Psychotechnik zur Verfügung stellte, „um zu entscheiden, was wir tun sollen“.17) Bei diesem Angebot der psychotechnischen Einsatzmöglichkeiten blieb es allerdings vorerst – Münsterberg experimentierte größtenteils in seinem Labor in Harvard, die Europäer wussten mit der Zit. Münsterberg „praktischen Anwendung der Psychologie im Dienste der Kulturaufgaben“18) nicht so viel anzufangen wie die Russen, wo die Psychotechnik in die Psychotherapie Bechterevs ebenso wie in die Pädagogik, Forensik, Ästhetik (bzw. Kunst) und in die Reklame Einzug hielt und wo sie vor allem zur Steuerung der Aufmerksamkeit eingesetzt wurde (Abb. 08, Fahrsimul.). Sie sehen hier einen Abdruck von Münsterbergs Fahrsimulation zum Training von Straßenbahnfahrern in einer sowjetischen Filmzeitschrift. Die Darstellung wurde als Argument dafür genutzt, dass die Wirklichkeit immer technischer werde und es daher mehr Kinos brauchte, um die Bevölkerung an Situationen wie diese zu gewöhnen, was verdeutlicht, wie populär Münsterbergs Versuchsanordnung in den 20er Jahren in Russland war und auch, dass diese Praxis des Testens der Wahrnehmung in die Filmbranche Eingang gefunden hatte.
Entscheidend ist angesichts solcher bis heute noch bekannter Testsituationen, dass Münsterbergs Psychotechnik nicht nur Apparate im Einsatz hatte, um menschliche Reaktionen zu testen, sondern dass er den Menschen selbst als Apparat verstand. Wie ein „Techniker weiß, wie er eine Brücke bauen oder einen Tunnel bohren soll“,19) so wusste Münsterberg, wie er die Psyche des Menschen durchschauen, erreichen und manipulieren konnte – und verließ sich darauf, dass die Reaktionen seiner Probanten in jedem Fall eintraten, ohne diese Reaktionen selbst noch zu überprüfen. Reflexhaft sollte der Fahrer in dieser Fahrsimulation auf Signale reagieren wie Hupen und Lichter, doch ob sein Fahrstil dadurch wirklich besser wurde, blieb dahin gestellt. Wichtig schien nur, dass hier Reaktionen trainiert wurden, dass die Praxis der motorischen Reaktionen aus der Psychologie in einem wirtschaftlich rentablen und technischen Bereich zur Anwendung kam, auch wenn der positive Effekt vielleicht nur die Übung der Reflexe war, und nicht ihre Optimierung etwa. Die Psychotechnik verkörpert hiernach einen Zirkelschluss aus Unterstellungen: einer sich immer mehr technisierenden Wirklichkeit war nur mit Techniken beizukommen, weshalb selbst die geistigen Fähigkeiten des Menschen nur vermittels technischer Versuchsanordnungen zu untersuchen seien, was auch menschliche Eigenschaften wie die physiologischen Reflexe als technisch präformiert erscheinen ließ.
Entsteht nun durch die Anwendung im Gegensatz zur Analyse des Reflexwissens eine Differenz für den Reflexbegriff? Oder, mit anderen Worten: wird hier aus einem physiologischen Begriff ein mit technischen Implikationen aufgeladener, ‚unreiner’ Begriff? Ist das „Technische“ des Reflexes ein Moment der Verunreinigung?
4. Reflex-Geschichte
Die Herausbildung des Reflexbegriffs setzte Georges Canguilhem 1955 in seiner Studie zum Reflex beim ersten Wortgebrauch an und wies den Ausdruck „motus reflexus“ Mitte des 17. Jahrhunderts bei dem Oxforder Arzt Thomas Willis nach. Dieser hatte damit eine Bewegungsart beschrieben, die von einem Zentrum ihren Ausgang nahm und dorthin zurückreflektierte. Zur Erklärung der damals schon als automatisch bezeichneten Bewegung lehnte sich Willis an Vorstellungen und Visualisierungen von Feuerwerken an. Wie Yvonne Wübben in unserem gemeinsamen Projekt zum Reflex herausgearbeitet hat, bildeten pyrotechnische Darstellungen des 17. Jahrhunderts für ihn die entscheidenden Modelle für unwillkürliche Bewegungen, die jenen glichen, die an Menschen beobachtbar waren.20) Canguilhem verstand den Reflex nach all dem als einen Begriff, der von Anfang an durch nicht-physiologische, durch technische Vorstellungen kontaminiert war.
Der Reflexbegriff stellt allerdings noch mehr in Frage als nur die Unterscheidung von Natur und Technik, er bringt auch die Beschränkung der Begriffsgeschichte auf das Medium der Sprache ins Wanken. Ganz unabhängig nämlich von Willis’ Wortgebrauch wurde der Reflex im Laufe des 18. Jahrhunderts Gegenstand der experimentellen Praxis. Der schottische Arzt Robert Whytt untersuchte um 1750 nicht-steuerbare Reaktionen, indem er dezerebralisierte Körper von Fröschen auf verschiedene Weise reizte. Dabei beschrieb er den Verlauf eines Reflexbogens, ohne das Wort „Reflex“ zu verwenden.21) Seine Experimente (das Reizen von Augen mit Licht und Flüssigkeiten) tauchten etwas zeitversetzt andernorts wieder auf: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte der englische Arzt Marshall Hall Whytts Dekapitierungen am Frosch erneut durch und beschrieb ausdrücklich den so genannten bis heute gültigen Reflexbogen.22) Der Reflex wurde hiernach bereits als Praxis entdeckt, bevor er als Reflex bezeichnet wurde; die experimentellen Praktiken, die ihn hervorbrachten, gingen seiner theoretischen Beschreibung voraus und zwar nicht in dem Sinne, dass die Experimente dem Begriff zugrunde lagen, sondern sie standen begrifflich für sich – die Praktiken waren Begriffe ohne Worte.
Whytts Experimente tauchten etwas zeitversetzt an zwei Orten wieder auf: Mit der Einführung der Guillotine auf dem Henkersplatz – wo angesichts der anhaltenden Reflexe diskutiert wurde, wann der Todeszeitpunkt nach der Köpfung eigentlich eintrete – bekam Whytts Beobachtung, dass Bewegungsreaktionen durch Schockzustände unterbrochen werden konnten, neue, politische Relevanz. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts dann führte der englische Arzt Marshall Hall Whytts Dekapitierungen am Frosch erneut durch und beschrieb ausdrücklich den so genannten Reflexbogen, die neuronale Struktureinheit, die seither als Träger von Reflexen verstanden wird.23)
So zeigt sich schon die Entdeckung des Reflexes nicht als ‚reine’ Angelegenheit wenn sie sich an Feuerwerkskörpern orientierte, und es verwundert nicht, dass dem physiologischen Begriff bald auch psychologische Funktionen zugeschrieben wurden. Ivan Secenov, ein Russe, der unter anderem bei Claude Bernard und Johannes Müller gearbeitet hatte, führte den Reflex in den 1860er Jahren nach Russland ein (Abb. 09 Sechenov). Von Pavlov als „Vater der Russischen Physiologie“ bezeichnet, hatte auch er einen denkbar breiten Reflexbegriff: Vom Herzklopfen über Fortbewegung bis hin zum Denken führte Secenov fast alles menschliche Handeln auf Reflexe zurück, selbst das Bewusstsein wurde zu einem Teil im Reflexkörper, in dem es sich lediglich in Form von Hemmungen gegen Reflexe behaupten konnte, was eine europaweite Debatte darüber auslöste, ob die Hemmung von Reflexen peripheren oder zentralen Ursprungs sei, ob das Aussetzen von Reflexreaktionen also von außen oder vom Inneren des Körpers gesteuert war.
Die entscheidende Frage angesichts dieser radikalen Auffassung ist, wie Secenov sie in der Russischen Kultur verankern konnte, in einer Gesellschaft, die sich gerade erst 1861 von der Leibeigenschaft befreit hatte und in der man nicht die Propagierung von unwillentlichen sondern von bewussten Reaktionen erwarten würde. Der offizielle Widerstand gegen seine Botschaft hatte denn auch zur Folge, dass er seine Schrift „Reflexe des Gehirns“ nicht in einer gesellschaftspolitischen Zeitschrift veröffentlichen konnte, mit der er die breite Bevölkerung erreicht hätte, sondern in einem medizinischen Fachblatt.24) Fast zeitgleich tauchte jedoch Secenovs materialistisches Menschenbild in Romanen wie Iwan Turgenjews „Väter und Söhne“ und Nikolaj Cernisevskis „Was tun“ auf, sodass schließlich – wie Barbara Wurm kürzlich gezeigt hat – Literatur maßgeblich dazu beitrug dass die Reflex-Physiologie sich in Russland durchsetzen konnte. Hier wurde aus dem Reflex ein narratives Element und aus Literatur ein Medium wissenschaftlicher Übersetzungsarbeit.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich der Reflexbegriff in den Lebenswissenschaften etabliert und breitete sich in Disziplinen wie der Psychologie, Psychiatrie, Psychoanalyse und Biologie aus. Während Strukturen wie das Nervensystem, das Unbewusste, die Gefäße, Sinnesorgane und Muskeln erforscht wurden, standen zugleich das Bewusstsein, die Seele, das Denken oder die Sprache auf dem Spiel. Doch immer wurde der Reflex als einmaliges, unwiederholbares, isoliertes, nicht willentlich steuerbares und deshalb automatisch im Sinne von selbsttätig vor sich gehendes Ereignis begriffen. Erinnern wir nun die Rolle des Reflexes für Tschachotin und seine Stichwortgeber Pavlov und Bechterev, fällt ein signifikanter Unterschied in der Definition des Begriffs auf: Letztere betonten an ihm die externen und internen Stimulierungen bzw. Veränderungen, die genau bestimmt und trainiert werden sollten, wie dies vor allem Pavlovs Konditionierung mittels bedingter Reflexe praktizierte. Auch Tschachotin hatte eine Reflex-Vorstellung parat, die davon ausging, dass die Reflexe seiner Adressaten durch visuelle Zeichen und ihre geschickte Anordnung zielsicher ausgelöst werden konnten.
Hier gibt sich aber ein Widerspruch zu erkennen: In den 1920er Jahren wurde ein Phänomen des Kontrollverlusts als Begriff für Regulation und Kontrolle genutzt. Der Reflex-Begriff hatte sich damit in sein genaues Gegenteil verkehrt: von einem automatischen, nicht steuerbaren Vorgang zu einer willentlich auslösbaren und mit unbedingter Gewissheit ablaufenden Reaktion. Und damit hatte sich auch das Verständnis vom Automatismus gewandelt – von etwas automatischem, weil von selbst ablaufenden und nicht beeinflussbaren zu etwas technischem, weil nach einfachen Regeln beherrschbarem und entwerfbarem.
Diese Entwicklung ging einher mit dem Auftreten des Reflexes in den technischen Medien. Künstler der Russischen Avantgarde (vielmehr die frühen Medienkünstler unter Ihnen) wie der Fotograf Aleksandr Rodcenko oder die Filmemacher Sergej Eisenstein, Dziga Vertov und Vsevolod Pudovkin bedienten sich entweder Formulierungen aus der Reflexlehre zur Beschreibung ihrer Theorien oder behaupteten ihr Medium Film als Reizmittel für Reflexe. Eisensteins „Kino der Attraktionen“ ist hierfür das wohl berühmteste Beispiel. Doch am konkretesten war die Verbindung zwischen Kunst und Psychotechnik bei dem Architekten Nikolaj Ladovskij (Abb. 10, Apparat). Er konstruierte fünf so genannte Glazometry, Augenmeter, mit denen er die Wahrnehmung der Studienbewerber an den VChUTEMAS testete, einer Schule vergleichbar mit dem Deutschen Bauhaus. Die Apparate entwickelte Ladovskij angelehnt an psychotechnische Geräte aus Deutschland (Abb. 11 Moede), sein pädagogisches Konzept formulierte er mithilfe von Zitaten Hugo Münsterbergs. Ihm diente ebenso wie den Filmemachern der Pavlovsche Reflex als Modell für eine neue, auf die Aufmerksamkeit der Rezipienten ausgerichtete Kunst bzw. Architektur, sodass auch hier die Spannung genutzt wurde, die die Vorstellung von einem spontanen und zugleich gezielt auslösbaren Reflex herstellt. Ladovskij benutzte die Apparate auch zum Training des Schätzungsvermögens seiner Studenten, doch am Ende seiner immer wieder wiederholten Tests standen nicht psychologische Erhebungen sondern Gebäude, deren Wirkung im städtischen Raum zuvor im so genannten psychotechnischen Labor für Architektur quasi voraus gesehen worden waren. Die so genannte psychotechnische Architektur ist ein gutes Beispiel für den Technikbegriff, der in dieser Zeit verhandelt wurde, denn es ging hier nicht allein um Technik im materiellen Sinne von Apparaten, sondern um eine technisch durchwirkte Wirklichkeit, die sich in eben diesen Gebäuden äußerte, deren Entwürfe mithilfe von Psychotechnik-Experimenten entstanden waren (Abb. 12 Metro Rotes Tor).
Hier möchte ich innehalten. Tschachotins politische Propaganda ließe sich noch viel detaillierter einbetten in der Geschichte des Reflexes und mit vergleichbaren Ansätzen psychotechnischer Propaganda kontextualisieren. Wichtig ist noch festzuhalten, dass die Verbreitung des Reflexes in Kunst und Medien auf eine Konjunktur des Reflex-Paradigmas hindeutet, die sich auch nach dem 2. Weltkrieg fortsetzte, beispielsweise in der Kybernetik, wo die Programmierbarkeit des Reflex-Verhaltens an Maschinen postuliert wurde. Aber ich möchte nun zurück kommen zu meiner Ausgangsfrage, die ja war, wie sich Tschachotins Versuch, mittels visueller Symbole die Massen zu lenken zu dieser Geschichte verhält und es hat sich gezeigt, dass der Reflex schon vor Tschachotins Einsatz von technischen Vorstellungen wie der Pyrotechnik kontaminiert war, dass er schon im 18. Jahrhundert als automatisch ablaufendes Phänomen aufgefasst wurde, dass er sich auch in Praktiken ohne schriftlichen Beleg zeigen konnte und dass er in technischen Medien wie dem Film auftauchte und von Architekten ebenso aufgegriffen wurde, wie von Propagandisten. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass Tschachotin mit einem völlig anderen Reflex-Begriff konfrontiert war, als ihn die experimentelle Physiologie des 19. Jahrhunderts bereithielt. Nun will ich hieraus meine Schlussfolgerungen ziehen.
5. Schluss
Blickt man nicht nur synchron, sondern dialogisch auf die Experimente zum Reflex werden Zusammenhänge zwischen Disparatem sichtbar, wie zwischen der Pyrotechnik des 17. Jh. und den ersten Froschköpfungen in Schottland oder zwischen Architekten, Physiologen und Propagandisten in den 1920er Jahren. Avantgarde Kunst, technische Medien, Propaganda, Politik und Kybernetik – der Anwendungshorizont des Reflexes ist seither um einiges erweitert worden, doch lange noch nicht erschöpft: Es ließen sich weitere sehr disparate Felder entdecken, in welche die Reflexforschung hineingewirkt hat wie die Werbung, die Arbeitswissenschaften und die Musik.
Doch ich will nicht nur ein quantitatives Argument machen. Es war der Blick auf die Praktiken, der mir zentral erschien und ich möchte nun abschließend betonen, wieso. Hätte ich mit Ihnen nur auf die Symbolsprache Tschachotins geschaut, wären wir aus seinen Erläuterungen nicht schlau geworden und hätten seine Ausführungen zum Reflex-Verhalten für unverständlich gehalten (Abb. 13 Tabelle + Pfeil). Erst der Vergleich zu Pavlovs und Bechterevs Reflexpraxis hat gezeigt, dass die Voraussetzungen für diese Kommunikationsform in der Reflex-Physiologie lagen und die Verständnisschwierigkeiten darin begründet sind, dass die Anwendung von wissenschaftlichen Experimenten im öffentlichen Raum einfach nicht nachvollziehbar, nicht beweisbar war - und ist. Der allen Akteuren gemeinsame Reflexbegriff hat den Weg zu pyrotechnischen Darstellungen im 17. Jh. und zu Experimentalpraktiken im 18. Jahrhundert bereitet. Im Blick auf die Interpretation dieser Praktiken hat sich gezeigt, dass der Reflexbegriff einem Wandel unterworfen war, der sich besonders deutlich darin niederschlug, dass sich neben den Wissenschaftlern Anfang des 20. Jahrhunderts auch Künstler mit der Anwendung von Reflexen befassten und dass diese Anwendung aus der Praxis des Reflexe-Analysierens eine Technik des Reflexe-Auslösens gemacht hat, die sich gar in einer Disziplin genannt „Psychotechnik“ niedergeschlagen hatte – womit wir bei der qualitativen Differenz zwischen Praxis- und Theorie-Geschichte wären. (Abb. 14 leer)
Das Historische Wörterbuch der Philosophie25) weiß von all dem nichts. Hier hat der Reflex seine Vorgeschichte in der Antike, bildet sich begrifflich im 17. heraus, findet im 19. Jahrhundert in der Physiologie seinen wichtigsten Bestimmungsort, wird in der introspektiven Psychologie mit Automatismus und Willkürhandlung in Verbindung gebracht und mündet schließlich in der Reflexologie und im Behaviorismus. Aus Sicht einer linear und innerhalb stabiler disziplinärer Grenzen sich entwickelnden Geschichtsschreibung mag diese Darstellung hinreichend sein.
Eine Konzentration auf die Praktiken fördert hingegen ein völlig anderes Bild zutage. Angesichts der von Anfang an sich zeigenden technischen Kontaminationen des Reflex-Begriffs muss er als durchgehend kulturelles Phänomen aufgefasst werden, das sich nach seiner sukzessiven Herausbildung als Wort und als Praxis, im 19. Jahrhundert als interdisziplinäres Element in den Lebenswissenschaften etabliert hat und im 20. Jahrhundert dann zu einem zentralen Konzept für die Anwendung der Lebenswissenschaften geworden ist. Doch die longue-durée Perspektive hat nicht nur eine andere Historiographie des Reflexes nahe gelegt, sondern noch viel mehr: sie hat das Moment der Anwendung des Reflexes außerhalb physiologischer Labore als epistemischen Bruch für seine Definition kenntlich gemacht – von einer unwillentlichen zu einer steuerbaren Reaktion; von einem automatischen zu einem technischen Phänomen.
Hiernach könnte man vom Reflex als einem Mischwesen sprechen aus Wortfindung, Vorstellung, Ereignis, Experimentalpraxis, aus diskursiven Elementen und Modellen für Bewegungs- und Denkprozesse.26) Ein solches Phänomen in einer bestimmten Disziplin zu verorten würde bedeuten, es auf nur eine der vielen Funktionen zu reduzieren, die ihm historisch zukamen. Statt sich für eine Disziplin zu entscheiden, sollten vielmehr die Vereinfachungen und Grenzziehungen zwischen den Disziplinen, zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft, zwischen Kunst und Technik selbst historisiert werden.
Als Sergej Tschachotin in Russland weilte, schien jedenfalls keine solche Grenze zu existieren: Er war umgeben von Physiologen, die in ihren Laboren Künstler und Filmemacher mithilfe von Apparaten ausbildeten und dabei den menschlichen Organismus als Reflex-Apparat projizierten. Als Tschachotin mit seinem Reflexwissen in Deutschland aktiv wurde, beschäftigten sich parallel zahlreiche Künstler (nicht nur in Russland, auch am Deutschen Bauhaus) mit der Einrichtung einer auf die Reflexe abzielenden Ästhetik, künstlerische Medien wurden zu Medien wissenschaftlicher Praktiken, aus wissenschaftlichen Praktiken wurden Techniken, indem sie im gesellschaftlichen Raum wiederholt und gezielt Anwendung fanden – ganz gleich ob zu wissenschaftlichen oder künstlerischen Zwecken.
Warum dies so ist, diese Frage muss noch offen bleiben für zukünftige Untersuchungen. Der Mediziner François Jacob hat hierzu die Überlegung formuliert, die Experimentalwissenschaften stimmten mit den Künsten vor allem darin überein, dass sie eine „Werkstatt des Möglichen“ darstellten.27) Dies äußere sich beispielsweise in der „Ausrichtung ihrer Gedanken“ und in der „Art der verwendeten Bilder.“ Zugleich aber relativiert Jacob den Vergleich: „[…] solche Entsprechungen sind nicht so einfach zu analysieren.“28) Sie erscheinen bevorzugt nach Revolutionen und führen zu einer „Verschiebung des Möglichen […].“29)
Sergej Tschachotin hat versucht, die Möglichkeiten, die die Russische Revolution in Gang gesetzt hat, in Deutschland politisch zu nutzen, was kurz nach seinem erfolgreichen Coup in Hessen mit Hausdurchsuchungen, der Entlassung vom KWI und dem Pariser Exil endete. 1939 erschien sein letztes Buch mit dem Titel „Die Vergewaltigung der Massen“ auf französisch und englisch. Hier resignierte er im Vorwort: Es ist „zu spät, diejenigen, die über menschliche Schicksale entscheiden können, über die folgenden Gesetze und neuen Fakten aufzuklären, die hier dargelegt werden. Das Irreparable ist geschehen: Wir sind im Krieg.“ In der Sowjetunion wurden seine Schriften verboten, da er den Bolschewiken als Verräter galt, der ihre Propagandamethoden in der kapitalistischen Welt publik machte. Während Tschachotin seinen Widersachern in Deutschland als das „Auge Moskaus“ galt, hatte er in Russland den Spitznamen der „Rote Goebbels“. Widersprüchlicher konnten Fehleinschätzungen kaum sein.
Vielleicht hat aber genau diese Widersprüchlichkeit den visuellen Raum eröffnet, in dem das weiter existiert, was Tschachotin als Mittel zur Manipulation der Psyche in Deutschland entwickelt hat – ein visuelles Objekt das zugleich Medium Pavlovscher Konditionierung, künstlerischer Adressierung und politischer Wirkung darstellte.
Abb. 15: Sie sehen hier den roten Pfeil, wie ihn die Widerstandskämpfer in den 30er Jahren entworfen haben, dann…
Abb. 16: wie der Pfeil bei El Lissitzky 1919 in dem Plakat „Schlagt die Weißen mit dem Roten Keil“ entworfen worden war
Abb. 17: und schließlich taucht der rote Pfeil wieder im aktuellen Logo der Linken Partei auf.
Welche Praktiken solche Bilder entstehen lassen, die zwischen politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Wissensfeldern auftauchen und welche Rolle sie für unsere Wahrnehmung spielen, mit dieser offenen Frage möchte ich enden. Vielen Dank!
Sergej Tschachotin: Die Technik der politischen Propaganda - Volltext
Material
A. Primärmaterial
1741 | Zedler, Johann Heinrich: (Art.) Reflexibilität der Strahlen, in: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 30, S. 846. |
1746 | Zedler, Johann Heinrich: (Art.) Uiberdencken, Reflectiren, Reflexion, in: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 48, S. 304-305. |
1750 | Zedler, Johann Heinrich: (Art.) Zurückprallung oder Rückprallung, in: Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 64, S. 248. |
B. Sekundärmaterial
Begriffsgeschichtliche Arbeiten
- Canguilhem, G.: La Formation du concept de réflexe aux XVIIe et XVIIIe siècles. Paris, 1955. (Bibliothèque de philosophie contemporaine. Logique et philosophie des sciences) (²1977). [Dt.: Georges Canguilhem: Die Herausbildung des Reflexbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert. Aus dem Französischen übersetzt und durch ein Vorwort eingeleitet von Henning Schmidgen. München, 2008.]
- Rezension: Paul Delunay, Archives Internationales d’Histoire des Sciences 9, 1956, S. 161-163.
- Kallendorf, C.: (Art.) Anaklasis, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Tübingen, 1992. Bd. 1, Sp. 482-485.
- Konorski, J.: Conditioned Reflexes and Neuron Organization, 1948.
- Pawlow, I.P.: Der bedingte Reflex, 1936. In: Pickenhain, L. (Hg.). I.P. Pawlow. Sämtliche Werke, Bd. III/2. Akademie Verlag, Berlin, 1953, S. 532-549.
- Scheerer, E.: (Art.) Reflex/Reflexbewegung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 8, Basel, 1992, Sp. 388-396. Inhaltsangabe
- Smith, C. R. u. G. Kalivoda: (Art.) Diaphora, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding. Tübingen, 1994. Bd. 2, Sp. 621-623.
- Zahn, L.: (Art.) Reflexion, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 8, Basel, 1992, Sp. 396-405.
Siehe auch:
- Danziger, K.: (Art.) Reiz und Reaktion, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg.v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 9, Basel/Stuttgart, 1992, Sp. 555-567.
- Grünepütt, K.: (Art.) Selbstreflexion, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg.v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 8, Basel/Stuttgart, 1995, Sp. 518-520.
- Halbfass, W.: (Art.) Reflexionsbegriffe, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg.v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 8, Basel/Stuttgart, 1992, Sp. 406.
- Janke, W.: (Art.) Reiz und Reaktion, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg.v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 1, Basel/Stuttgart, 1971, Sp. 448-450.
Sonstige Literatur
- Boyer, Carl B.: Aristotelian References to the Law of Reflection. In: Isis 36, 1946, S. 92-95.
- Clower, W.T.: Early contributions to the reflex chain hypothesis. In: Journal of the History of the Neurosciences 7, 1998, S. 32-42.
- Dewey, J.: The reflex arc concept in psychology. In: Psychological Review 3, 1896, S. 357-370.
- Düsing, Klaus: Spekulation und Reflexion. Zur Zusammenarbeit Schellings und Hegels in Jena. In: Hegel-Studien 5, 1969, S. 27-34.
- Hébert, Robert: Introduction à l’histoire du concept de réflexion. In: Philosophiques 2, 1975, S. 132-153.
- Hébert, Robert: Mobiles du discours philosophique. Recherches sur le concept de rèflexion. Montreal, 1978.
- Jaeschke, Walter: Äußerliche Reflexion und immanente Reflexion. (Geschichte des Reflexionsbegriffes in Hegels Logik-Entwürfen). In: Hegel-Studien 13, 1978, S. 85-117.
- Liedtke, Max: Der Begriff der Reflexion bei Kant. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 48, 1966, S. 207-216.
- Phantome im Labor: Die Verbreitung der Reflexe in Hirnforschung, Kunst und Technik, Sonderheft: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 32, 2009, Heft 1, Inhalt, darin u.a.:
- Wübben, Yvonne und Margarete Vöhringer: Reflexe in Hirnforschung, Kunst und Technik. Einleitende Bemerkungen. Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 32/1, 2009, S. 7–13.
- Janssen, Sandra: Von der Dissoziation zum System. Das Konzept des Unbewussten als Abkömmling des Reflexparadigmas in der Theorie Freuds, S. 36-52. * Porath, Erik: Vom Reflexbogen zum psychischen Apparat: Neurologie und Psychoanalyse um 1900, S. 53-69.
- Phillips, D.C.: James, Dewey, and the Reflex Arc. In: Journal of the History of Ideas, 32.4, 1971, S. 555-568. Vorschau
- Risos, Antonios: Der Reflex. Sprachkritische Bemerkungen zur Geschichte der Unterteilung der Bewegungsvorgänge in Willkürliche und Unwillkürliche. In: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 32, 1989, S. 170-180.
- Vöhringer, M.: Reflex. Begriff und Experiment. In: Müller, E. und F. Schmieder (Hg.). Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, 2008, S. 203-212.
- Wübben, Y.: Kontinuität und Kontamination. Georges Canguilhems Begriffsgeschichte des Reflexes. In: Müller, E. und F. Schmieder (Hg.). Begriffsgeschichte der Naturwissenschaften. Zur historischen und kulturellen Dimension naturwissenschaftlicher Konzepte, 2008, S. 175-202.
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