begriffe:tatsache
Inhaltsverzeichnis
Tatsache, Wirklichkeit
lat./ ahd. | factum, res facti / tātsahha | engl | matter of fact, fact | |
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franz. | fait | Gegenbegriffe | Vermutung, Annahme, Fiktion | |
Wortfeld | Fakt, Faktum, Gegebenheit, Gewissheit, Realität, Wirklichkeit, Sachlage, Sachverhalt |
Disziplinäre Begriffe
- Allgemein: Ein Sachverhalt, der keiner Beweisführung, bzw. eines Beweises bedarf, der - im Unterschied zur Fiktion - wirklich d.h. nachweisbar geschehen oder gegeben ist.
- Rechtswesen: Gegebenheit; etwas Geschehendes oder Bestehendes, das in die Wirklichkeit getreten und daher dem Beweis zugänglich ist.
Material
A. Primärmaterial
1756 | Erstmalige Erwähnung im Deutschen: Butlers, Joseph D.: Bestätigung der natürlichen und geoffenbarten Religion aus ihrer Gleichförmigkeit mit der Einrichtung und dem ordentlichen Laufe der Natur. (Übers.: (1750) von J.J. Spalding.) Leipzig, 1756. Volltext online Theologische Deutung des Begriffes als konkrete Handlung: "[…] Es ist eine Tatsache (res facti) die wir in der Erfahrung wahrnehmen, daß er wirklich aufs gegenwärtige Herrschaft und Regiment über uns ausübet, indem er uns unserer Handlungen wegen belohnet und strafet […]" (S. 51) "Diese Offenbarung, sie mag nun wahr oder bloß vorgegeben seyn, kann ganz als historisch angesehen werden. Denn eine Weißagung ist nichts anders, als eine Erzählung von Begebenheiten, ehe sie geschehen sind. Die Lehren sind auch Thatsachen (Res facti) und die Gebote gehören gleichfalls unter diese Klaße. […]" (S. 358) "Man laße nun diese Menschen auch besonders die folgenden Dinge, als zugestandene und unläugbare Thatsachen (Res facti) (wie sie nach der vorhergehenden Betrachtung allerdings angesehen werden müßen bemerken, daß eine solche Nation, als die Juden, eine Nation von dem größten Alterthum, wirklich vorhanden gewesen, […]" (S. 370) "[…] sondern wenn von diesen Einwürfen vorausgesetzt und gezeigt worden, daß sie nicht bündig und schließend sind, so wird von den dadurch bestrittenen Dingen, wenn sie als Thatsachen (res facti) betrachtet werden, ferner erwiesen, daß sie glaublich sind, und zwar wird dies erwiesen, aus ihrer Gleichförmigkeit mit der Einrichtung der Natur; […]" (S. 398-390). |
1765 | Voltaire: Encyclopédie. Voltaire unterscheidet im Artikel 'Histoire' im Bd. 8 der Encyclopédie die Geschichte von der Sage durch den Begriff der Tatsache (res factae vs. res fictae): "Die Erzählung von Tatsachen, die für wahr gelten, im Gegensatz zur Sage als einer Erzählung von Tatsachen, die für falsch gelten." |
1769 | Bonnet, Charles: Herrn C. Bonnets Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und zukünftigen Zustand lebender Wesen: „Hier frage ich mich selbst: Ob ein menschliches Zeugnis, so gewiß und so vollkommen ich mir dasselbe auch immer voraussetzen will, hinlänglich sey, die Gewißheit oder wenigstens die Wahrscheinlichkeit solcher Thatsachen, welche selber wider die gewöhnlichen Gesetze der Natur anlaufen, festzusetzen? Ich bemerke auf den ersten Blick, dass eine Thatsache, die ich wunderbar nenne, deswegen nicht weniger eine in die Sinne fallende handgreifliche Thatsache ist. Ich erkenne sogar, dass es die Ordnung der Weisheit mit sich bringt, dass sie stark in die Sinnen falle, sehr handgreiflich sey. Eine solche Thatsache war also unter der Gerichtsbarkeit der Sinne, und konnte also der Gegenstand des Zeugnisses seyn.“ in: Herrn C. Bonnets Philosophische Palingenesie. Oder Gedanken über den vergangenen und zukünftigen Zustand lebender Wesen, Als ein Anhang zu den letztern Schriften des Verfassers; und welcher insondernheit das Wesentliche seiner Untersuchungen über das Christenthum enthält. Aus dem Französischen übersetzt, und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Caspar Lavater, Zweyter Theil, Zürich 1769, S. 115 f, (= 18. Stück: Fortsetzung der philosophischen Unterhaltung über die Offenbarung. Das Zeugnis.) |
1774 | Herder, Johann Gottfried: Aelteste Urkunde des Menschengeschlechts. In: Herders Sämtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Berlin, 1883. "Komm hinaus, Jüngling, aufs freie Feld und merke. Die urälteste herrlichste Offenbarung Gottes erscheint dir jeden Morgen als Thatsache, großes Werk Gottes in der Natur." (S. 258). |
1770er | Adelung, Johann Christoph: Adelung wollte 'Tatsache' als "unschicklich und wider die Analogie zusammengesetzt" und "der Mißdeutung unterworfen", verbannen. Zitiert nach Eucken, Rudolf: Grundbegriffe der Gegenwart, 1893, S. 54 |
1781 | Kant, Immanuel: KdU V, S. 482: "Gegenstände für Begriffe, deren objective Realität […] bewiesen werden kann, sind (res facti) Thatsachen." Kant sieht auch eine Vernunftidee, nämlich die Idee der Freiheit als Tatsache. |
1790 | Kant, Immanuel: In der KdU unterscheidet Kant in § 91 eine dreifache Art erkennbarer Dinge: Sachen der Meinung (opinabile), Tatsachen (scibile) und Glaubenssachen (mere credibile). "Gegenstände für Begriffe, deren objektive Realität (es sei durch Vernunft, oder durch Erfahrung, und, im ersteren Falle, aus theoretischen oder praktischen Datis derselben, in allen Fällen aber vermittelst einer ihnen korrespondierenden Anschauung) bewiesen werden kann, sind (res facti) Tatsachen. Dergleichen sind die mathematischen Eigenschaften der Größen (in der Geometrie), weil sie einer Darstellung a priori für den theoretischen Vernunftgebrauch fähig sind. Ferner sind Dinge oder Beschaffenheiten derselben, die durch Erfahrung (eigene oder fremde Erfahrung, vermittelst der Zeugnisse) dargetan werden können, gleichfalls Tatsachen. - Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunftidee (die sich an keiner Darstellung in der Anschauung, mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit, fähig ist) unter den Tatsachen; und das ist die Idee der Freiheit […]." Fußnote dazu: "Ich erweitere hier, wie mich dünkt mit Recht, den Begriff einer Tatsache, über die gewöhnliche Bedeutung dieses Wortes. Denn es ist nicht nötig, ja nicht einmal tunlich, dieses Ausdruck bloß auf die wirkliche Erfahrung einzuschränken, […]da eine bloß mögliche Erfahrung schon hinreichend ist, um von ihnen, bloß als Gegenständen einer bestimmten Erkenntnisart, zu reden." Volltext online. |
ca. 1800 | Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Schelling sagt, dass in allen möglichen Untersuchungen die Ausmittlung der reinen, der wahren Tatsache das Erste und Wichtigste, aber auch Schwierigste ist. Schelling: Sämtliche Werke I, 10, 1836, S. 228. |
1812/1813 | Fichte, Johann Gottlieb: Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre, die transcendentale Logik, und die Thatsachen des Bewusstseins; vorgetragen zu Berlin in 1812 und 1813. Nachgelassene Werke, Bd. 1. Bonn, 1834. (V.a. S. 401ff.) Fichte ersetzt Tatsache durch Tathandlung. |
1878 | Helmholtz, Die Tatsachen in der Wahrnehmung. In: Hörz, H. und S. Wollgast (Hg.): Hermann von Helmholtz. Philosophische Vorträge und Aufsätze. Akademie-Verlag, Berlin, 1971, S. 247-282. |
1883 | Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer allgemeinen Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. In: Gesammelte Schriften Bd. I. Hg. von Karlfried Gründer u. Frithjof Rodi. Göttingen; Stuttgart, 9. Aufl., 1990. Begriffe der "Bewußtseinstatsachen" und der "geistigen Tatsachen" (Kap. II; S. 4-14). Hier vor allem: "Gerade hier macht sich aber die Unvergleichbarkeit materieller und geistiger Vorgänge in einem ganz an deren Verstande geltend und zieht dem Naturerkennen Grenzen von einem durchaus anderen Charakter. Die Unmöglichkeit der Ableitung von geistigen Tatsachen aus denen der mechanischen Naturordnung, welche in der Verschiedenheit ihrer Provenienz gegründet ist, hindert nicht die Einordnung der ersteren in das System der letzteren. Erst wenn die Beziehungen zwischen den Tatsachen der geistigen Welt sich als in der Art unvergleichbar mit den Gleichförmigkeiten des Naturlaufs zeigen, daß eine Unterordnung der geistigen Tatsachen unter die, welche die mechanische Naturerkenntnis festgestellt hat, ausgeschlossen wird: dann erst sind nicht immanente Schranken des erfahrenden Erkennens aufgezeigt, sondern Grenzen, an denen Naturerkenntnis endigt und eine selbständige, aus ihrem eigenen Mittelpunkte sich gestaltende Geisteswissenschaft beginnt. Das Grundproblem liegt sonach in der Feststellung der bestimmten Art von Unvergleichbarkeit zwischen den Beziehungen geistiger Tatsachen und den Gleichförmigkeiten materieller Vorgänge, welche eine Einordnung der ersteren, eine Auffassung von ihnen als von Eigenschaften oder Seiten der Materie ausschließt und welche sonach ganz anderer Art sein muß als die Verschiedenheit, die zwischen den einzelnen Kreisen von Gesetzen der Materie besteht, wie sie Mathematik, Physik, Chemie und Physiologie in einem sich immer folgerichtiger entwickelnden Verhältnis von Unterordnung darlegen. Eine Ausschließung der Tatsachen des Geistes aus dem Zusammenhang der Materie, ihrer Eigenschaften und Gesetze wird immer einen Widerspruch voraussetzen, der zwischen den Beziehungen der Tatsachen auf dem einen und denen der Tatsachen auf dem anderen Gebiet bei dem Versuch einer solchen Unterordnung eintritt. Und dies ist in der Tat die Meinung, wenn die Unvergleichbarkeit des geistigen Lebens an den Tatsachen des Selbstbewußtseins und der mit ihm zusammenhängenden Einheit des Bewußtseins, an der Freiheit und den mit ihr verbundenen Tatsachen des sittlichen Lebens aufgezeigt wird, im Gegensatz gegen die räumliche Gliederung und Teilbarkeit der Materie sowie gegen die mechanische Notwendigkeit, unter welcher die Leistung des einzelnen Teils derselben steht. So alt beinahe, als das strengere Nachdenken über die Stellung des Geistes zur Natur, sind die Versuche einer Formulierung dieser Art von Unvergleichbarkeit des Geistigen mit aller Naturordnung, auf Grund der Tatsachen von Einheit des Bewußtseins und Spontaneität des Willens." (S. 11-12) Volltext online. |
1901 | Husserl, Edmund: Logische Untersuchungen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. Zweiter Teil: Text nach Husserliana XIX/2. Hamburg; Meiner, 1992. "§ 65. Das widersinnige Problem der realen Bedeutung des Logischen Wir verstehen nun auch vollkommen, warum der Gedanke, es könne der Wettlauf die logischen Gesetze - jene analytischen Gesetze des eigentlichen Denkens bzw. die darauf gebauten Normen uneigentlichen Denkens - je verleugnen oder es müßte und könnte die Erfahrung, der matter of fact der Sinnlichkeit die Gesetze allererst begründen und Ihnen die Grenzen ihrer Gültigkeit vorschreiben, nichts als Widersinn ist. Wir sehen davon ab, daß auch die Wahrscheinlichkeitsbegründung auf Tatsachen hin eben Begründung ist, die als solche unter Idealgesetzten steht, Gesetzen, die (wie wir voraussehen) in den "eigentlichen" Wahrscheinlichkeitserlebnissen nach ihrem spezifischen Bestande und als generelle Gesetze fundiert sind. Hier gilt es vielmehr, darauf hinzuweisen, daß das sozusagen Tatsächliche der Tatsache zur Sinnlichkeit gehört und daß der Gedanke, durch Hilfe der Sinnlichkeit rein kategoriale Gesetze zu begründen - Gesetz, die ihrem Sinn nach alle Sinnlichkeit und Tatsächlichkeit ausschließen und bloß über kategoriale Formen, als Formen möglicher Richtigkeit, bzw. Wahrheit überhaupt, reine Wesensaussagen machen -, die klarste ετάβασις είς äλλo γένος darstellt. Gesetze die keine Tatsachen meinen, können durch keine Tatsache bestätigt oder widerlegt werden. […]" (S. 728) |
1904 | Weber, Max: Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, S. 192: Für Max Weber ist historische Erkenntnis nicht voraussetzungslose Abbildung ‚objektiver Tatsachen’, sondern Konstruktion von Zusammenhängen. Historische Tatsachen sind nicht Dinge aus der Vergangenheit, sondern ‚Gedankengebilde’. |
1913 | Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Text nach Husserliana III/1 und V. Hamburg, Meiner, 1992. (V.a. Kap. 1: Tatsache und Wesen. Hier v.a. S. 10-23). "Die Psychologie ist eine Erfahrungswissenschaft. Darin liegt, bei der üblichen Bedeutung des Wortes Erfahrung, ein Doppeltes: 1. Sie ist eine Wissenschaft von Tatsachen, von matter of fact im Sinne D. Humes. […] Demgegenüber wird die reine oder transzendentale Phänomenologie nicht als Tatsachenwissenschaft, sondern als Wesenswissenschaft (als "eidetische" Wissenschaft) begründet werden; als eine Wissenschaft, die ausschließlich "Wesenserkenntnisse" feststellen wird und durchaus keine "Tatsachen". Die zugehörige Reduktion, die vom psychologischen Phänomen zum reinen "Wesen", bzw. im urteilenden Denken von der tatsächlichen ("empirischen") Allgemeinheit zur "Wesens"allgemeinheit überführt, ist die eidetische Reduktion. […]" (S. 6) "§ 8. Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Tatsachenwissenschaft und Wesenswissenschaft. Nach dem Vorstehenden ist klar, daß der Sinn eidetischer Wissenschaft die Einbeziehung von Erkenntnisergebnissen empirischer Wissenschaften prinzipiell ausschließt. Die Wirklichkeitsthesen die in den unmittelbaren Feststellungen dieser Wissenschaften auftreten, gehen ja durch alle unmittelbar hindurch. Aus Tatsachen folgen immer nur Tatsachen. Ist nun alle eidetische Wissenschaft prinzipiell von aller Tatsachenwissenschaft unabhängig, so gilt andererseits das Umgekehrte hinsichtlich der Tatsachenwissenschaft. Es gibt keine, die als Wissenschaft voll entwickelt, rein sein könnte von eiditischen Erkenntnissen und somit unabhängig sein könnte von den, sei es formalen oder materialen eiditischen Wissenschaften. Denn fürs Erste ist es selbstverständlich, daß eine Erfahrungswissenschaft, wo immer sie mittelbare Begründungen von Urteilen vollzieht, den formalen Prinzipien gemäß verfahren muß, die die formale Logik behandelt. Überhaupt muß sie, da sie wie jede Wissenschaft auf Gegenstände gerichtet ist, an die Grenze gebunden sein die zum Wesen der Gegenständlichkeit überhaupt gehören. Damit tritt sie zu dem Komplex formal-ontologischer Disziplinen in Beziehung, die neben der formalen Logik im engeren Sinne die sonstigen Disziplinen der formalen "mathesis universalis" (also auch die Arithemetik, reine Analysis, Mannigfaltigkeitslehre) umspannt. Dazu kommt fürs Zweite, daß jede Tatsache einen materialien Wesensbestand einschließt und jede zu den darin beschlossenen reinen Wesen gehörige eidetische Wahrheit ein Gesetz abgeben muß, an das die gegebene faktische Einzelheit, wie jede mögliche überhaupt, gebunden ist." (S. 22-23.) |
1922 | Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. In: Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe Bd. I. Frankfurt am Main, 1989. S. 7-85. Wittgenstein bestimmt die Welt als die "Gesamtheit der Tatsachen" (1.1) bzw.: "1.13 Die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt." oder: "1.2 Die Welt zerfällt in Tatsachen". Wenig später wird die Tatsache als "das Bestehen von Sachverhalten" (2) bestimmt; Sachverhalte ihrerseits sind "eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen)" (2.01). Tatsachen sind aus dieser Sicht als Verhältnisse zu betrachten, in denen oder die zwischen Gegenständen bestehen. Da es eine wesentliche Eigenschaft von Sätzen ist, "daß sich seine Elemente, die Wörter, in ihm auf eine bestimmte Art und Weise zueinander verhalten" ist daher auch das "Satzzeichen" als "eine Tatsache" (3.14) zu betrachten. |
1929 | Malottki, Johannes von: Das Problem des Gegebenen. Berlin, 1929: "Von diesem Standpunkt aus läßt sich zunächst auch die Unklarheit beseitigen, die Rickert mit der Identität des Gegebenen und des Tatsächlichen hervorgerufen hatte. Gegebenes und Tatsächliches sind wohl insofern als zusammengehörig anzusehen, als beide Begriffe eine Bedeutung überhaupt nur im Bereich der Denkimmanenz haben. Aber innerhalb dieser Sphäre müssen sie nach der Ansicht des logischen Monismus durchaus getrennt werden. Beide Begriffe bezeichnen nämlich gleichsam den Anfangs- und Endpunkt des Denkprozesses, der Gegenstandsbestimmung. Im Begriff des Gegebenen wird die Aufgabe der Bestimmungsnotwendigkeit fixiert, im Begriff der Tatsache denken wir den abgeschlossenen Prozeß, das Ergebnis der Bestimmung. Nun ist der Prozeß der Bestimmung der Tatsache ein unendlicher, d. h. wir befinden uns immer nur im Stadium der Aufgabe, nicht im Bereich der Tatsache: gegeben ist uns nicht die Tatsache, sondern allein die Aufgabe. Das Gegebene ist das Aufgegebene. Sieht man dagegen im Gegebenen, d. h. in dem Aufgegebenen, noch immer zu Bestimmenden, die "fertige" Tatsache, dann identifiziert man Anfangs- und Endpunkt des Prozesses, also verschiedene Begriffe. Rickert brachte, so kann man hier argumentieren, die Tatsächlichkeit in die Gegebenheit hinein; er setzte das, was allein in unendlicher Annäherung der Bestimmung erfaßt werden kann, an den Anfang des Denkprozesses und machte gleichsam zur Vorstufe, was allein letztes Ziel ist. Deshalb kam er mit der "Form der Gegebenheit" nicht aus; er konnte damit die volle Tatsächlichkeit nicht erfassen. So schlich sich bei ihm zuletzt doch noch ein Irrationales, Bewußtseinsfremdes ein, während es sich im Grunde nur darum handelte, die gegebene, d. h. aufgegebene Tatsache im Fortgang der Denkgesetzlichkeit ins Unendliche zu 'konstatieren'." Vgl.Volltext online. |
1935 | Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt am Main, 1980. (Siehe auch: Ders.: Erfahrung und Tatsache: Gesammelte Aufsätze. Frankfurt am Main, 1983.) |
1945 | Popper, Karl: The open society and its enemies. Bd. II: The High Tide of Porophecy: Hegel, Marx and the Aftermath. London, 1945. (dt.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II/ Studienausgabe: Falsche Propheten Hegel, Marx und die Folgen. Tübingen, 2003, S. 348: "Es besteht also eine entscheidende Asymmetrie zwischen Maßstäben und Tatsachen: Mit der Entscheidung, einen Vorschlag (zumindest probeweise) zu akzeptieren, schaffen wir den dazugehörigen Maßstab (zumindest probeweise); durch die Entscheidung, eine Aussage zu akzeptieren, schaffen wir hingegen nicht die dazugehörige Tatsache. Eine andere Asymmetrie liegt darin, daß Maßstäbe immer Tatsachen betreffen und daß Tatsachen von Maßstäben bewertet werden; das sind Beziehungen, die nicht einfach umgehekrt werden können. Jedesmal wenn wir mit einer Tatsache konfrontiert sind - und besonders mit einer Tatsache, die wir ändern können -, können wir fragen, ob sie mit gewissen Maßstäben vereinbar ist oder nicht. […]" |
1956 | Strauss, Leo: Naturrecht und Geschichte. Stuttgart, 1956. Darin v.a. Kap. II: "Naturrecht und die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten." (Unter verändertem Titel: "Die Unterscheidung zwischen Tatsachen und Werten" erneut abgedruckt in: Hans Albert und Ernst Topitsch (Hg.): Werturteilsstreit. 2. erw. Aufl. Darmstadt. S. 73-91.) |
1990 | Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M., 1990, S. 288f: "[…] Diese Einsicht wird, wenngleich nur punktuell, registriert im Begriff der Tatsache (fact). Was für Ludwig Fleck zu den Zeiten des logischen Positivsmus noch eine Entdeckung war, wird heute allgemein akzeptiert. "Facts may be microtheories no longer controversial within the scientific community". In einer etwas elaborierten Begriffssprache könnte man daher auch sagen, daß Tatsachen die Außenwelt, gesehen von innen repräsentieren; daß sie die Ergebnisse der Irritationen des Systems fixieren, die auf Grund einer strukturellen Koppelung des Systems mit seiner Umwelt anfallen; oder auch: daß der Begriff Tatsache die strukturelle Kopplung des Wissenschaftssystems mit seiner Umwelt im System repräsentiert, so daß das System mit Hilfe dieses Begriffs für Zwecke interner Kommunikation davon ausgehen kann, daß es sich nach den Gegebenheiten seiner Umwelt richte, und dabei vergessen kann, daß dies nur dank der selbstreferentiellen Geschlossenheit des Netzwerkes der eigenen Operationen möglich ist. Und es kann dies vergessen, weil es ohnehin nicht zu ändern ist." |
1996 | Patzig, Günther: Theoretische Philosophie. In Gesammelte Schriften Bd. 4. Göttingen, 1996. (Darin: Kap. 1: Satz und Tatsache; Kap. 2: Das Problem der Objektivität und der Tatsachenbegriff); S. 23f: "[…] verschiedene Bilder von demselben Gegenstand haben eo ipso dasselbe Sujet. Hingegen stellen zwei verschiedene Sätze, die sich auf ein und dasselbe Ereignis beziehen, nicht dieselbe Tatsache dar. Zwei verschiedene Bilder können wenigstens der Möglichkeit nach genau dasselbe Sujet haben (etwa zwei Portraits verschiedener Künstler von einer Person), aber es ist ausgeschlossen, daß zwei wesentlich verschiedene Sätze dieselbe Tatsache darstellen. Hingegen können sich verschiedene Sätze z.B. auf dasselbe Ereignis beziehen oder einen Gegenstand beschreiben. Tatsächlich sind Ereignisse und Gegenstände, soweit sie von Sätzen dargestellt werden, viel eher als Analogie zum "Sujet" des Kunstwerkes aufzufassen als gerade die Tatsache. Die Tatsache ist nämlich an die Art der Darstellung so eng geknüpft, daß zwischen Vorgang und Ereignis einerseits und andererseits der Tatsache, die durch einen bestimmten Satz ausgedrückt wird, eine Dimension möglicher Verschiedenheit geöffnet bleibt, die bei den zum Vergleich herangezogenen Verhältnissen nicht besteht. "Tatsache" ist also nicht ein allgemeiner Ausdruck für Ereignisse, Vorgäng, Stimmungen, Bauformen usw. insofern diese von wahren Sätzen dargestellt werden. Jedenfalls nicht in dem Sinne wie "Ziel" ein allgemeiner Ausdruck für Bahnknotenpunkte, Flugzeuge, jagbare Tiere usw. ist, insofern jemand auf sie schießt oder schießen könnte, oder wie "Sujet" ein allgemeiner Ausdruck für Landschaften, Personen, Ereignisse und Szenen ist, insofern sie Gegenstand künstlerischer darstellung sind. der Begriff der "Tatsache" fällt deutlich aus dieser Gruppe heraus, weil Tatsachen von der Art der Darstellung im Satz abhängig sind. Eine Tatsache ist nicht ein Ereignis, insofern es in einem Satz dargestellt wird, sondern so wie es in diesem Satz dargestellt wird. […]" |
2000 | Latour, Bruno: Kap. Überraschungsmomente des Handelns. Fakten, Fetische und Faitiches, in: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2000 S. 327-359. Latour führt den Neologismus 'Faitiche', eine Verbindung von 'fait' (franz. Fakt, Tatsache) und 'fétiche' (Fetisch) ein, und definiert ihn folgendermaßen: "mit der Anklage des Fetischismus wird unterstellt, dass Glaubensvorstellungen und Wünsche von Gläubigen auf ein bedeutungsloses Objekt projiziert werden. Faitiches sind dagegen Handlungstypen, die sich nicht in die erzwungene Alternative zwischen Fakt und Glauben hineinpressen lassen. Der Neologismus Faitiche stellt klar, dass beiden ein Element der Fabrikation ist." S. 374. |
B. Sekundärmaterial
Begriffsgeschichtliche Arbeiten
- Gehring, Petra: (Art.) Tatbestand (juristisch), in: Joachim Ritter u.a. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10. Basel, 1999, Sp. 901-908.
- Halbfass, W., Simons, P.: (Art.) Tatsache, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 10, Basel, 1998, Sp. 910-916. Inhaltsangabe
- Homann, H. (Art.) Tatsache, soziale, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 10, Basel, 1998, Sp. 916-919.
- Patzig, Günther: Das Problem der Objektivität und der Tatsachenbegriff. In: Objektivität und Parteilichkeit. Hg. von Reinhart Koselleck u.a., München, 1977, S. 319ff. (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. Bd.1.)
- Staats, Reinhart: Der theologiegeschichtliche Hintergrund des Begriffes ‘Tatsache’. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche, 70, 1973, S. 316-345.
- Thomas-Fogiel, Isabelle und Philippe Quesne: (Art.) Tatsache, in: Vocabulaire Européen des Philosophies – Dictionnaire des Intraduisibles. Hg. v. Barbara Cassin, Tours, 2004, S. 1277-1283.
Siehe auch:
- Kühne, W u.a.: (Art.) Wahrheit VI C (analyt. Philos.), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg.v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 12, Basel/Stuttgart, 2005, Sp. 48-123.
- Schwarz, H.: (Art.) Analytisch/synthetisch, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg.v. J. Ritter u. K. Gründer. Bd. 1, Basel/Stuttgart, 1971, Sp. 251-261.
Sonstige Literatur
- (Art.) Destin, in: Vocabulaire Européen des Philosophies – Dictionnaire des Intraduisibles. Hg. v. Barbara Cassin, Tours, 2004, S. 295-296.
- (Art.) Fait, in: Vocabulaire Européen des Philosophies – Dictionnaire des Intraduisibles. Hg. v. Barbara Cassin, Tours, 2004, S. 441.
- Bitzilekis, Nikolaos: Der Tatsachenbegriff im Strafrecht. In: Festschrift für Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag am 11. April 1999. Hg. von Thomas Weigend u.a. Berlin; Ney York, 1999, S. 29-44.
- Daston, Lorraine: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt am Main, 2001.
- Döring, Eberhard: Zur Tat-Sache der "harten Fakten". Günter Abels "Interpretationswelten". In: Philosophisches Jahrbuch, 102/2, 1995, S. 159-170.
- Evans, Richard J.: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Frankfurt am Main; New York, 1998.
- Fleck, Ludwik: Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze. M. einer Einleitung und hg. von Lothar Schäfer. Frankfurt am Main, 1983. (2. Aufl. 1993.)
- Grunicke, Lucia: Der Begriff der Tatsache in der positivistischen Philosophie der 19. Jahrhunderts. Halle, 1930.
- Heidegger, Martin: Vorlesungen. Ontologie: Hermeneutik der Faktizität; frühe Freiburger Vorlesung Sommersemester 1923. In: Gesamtausgabe. Bd. 63, Abt. 2. Hg.v. Käte Bröcker-Oltmanns. 2. Aufl. Frankfurt am Main, 1995.
- Imdahl, Georg: Das Leben verstehen. Hermeneutik der Faktizität und formale Auslegung in Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen. Witten, 1994.
- Keuth, Herbert: Wissenschaft und Werturteil. Zu Werturteilsdiskussion und Positivismusstreit. Tübingen, 1989. (Darin v.a.: Kap.: 3.711 Wahrheitsbegriff und Tatsachenbegriff; S. 175-178.)
- Konersmann, Ralf: Thesen zum 'fait social', in: Kulturelle Tatsachen, Frankfurt am Main, 2006, S. 13-69.
- Latour, Buno u. Woolgar, Stece: Laboratory Life. The Construction of Scientific Facts. Princeton, 1979.
- Latour, Bruno: Von "Tatsachen" zu "Sachverhalten". Wie sollen die neuen kollektiven Experimente protokolliert werden? in: Schmidgen, Henning, Peter Geimer und Sven Dierig (Hrsg.): Kultur im Experiment. Berlin, 2004.
- Mulligan, Kevin u. Fabrice Correida: (Art.) facts, in: Stanford encyclopediea of philosophy. Volltext online
- Poovey, Mary: A History of the modern Fact. Problems of Knowledge in the Sciences of Wealth and Society. Chicago, London, 1998.
- Rancière, Jacques: Eine uralte Schlacht. Die Sprache der Tatsachen und die Poetik des Wissens. In: Neue Rundschau, 105/1, 1994, S. 21-30.
- Schabacher, Gabriele: Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion der Gattung und Roland Barthes 'Über mich selbst'. Würzburg, 2005. [darin: Begriffsgeschichte Fiktion/Fakt (Tatsache) S. 38-90].
- Schauplätze des Wissens. Konstitutionsbedingungen 'wissenschaftlicher' Tatsachen in der Frühen Neuzeit. Workshop vom 24. Oktober 2007. Tagungsprogramm
- Speich, Daniel: Mountains Made in Switzerland: Facts and Concerns in Nineteenth-Century Cartography. In: Science in Context, 22/3 (2009), S. 387-408.
- Weisse, Frieder: Kognitive Patternanalyse. Der Tatsachenbegriff der Kognitiven Anthropologie, Untersuchung seiner wissenschaftsgeschichtlichen Grundlagen und Entwurf eines Modells der kognitiven Patternanalyse. Berlin, 1984.
- White, Hayden: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Topologie des historischen Diskurses. Aus dem Amerik. von B. Brinkmann-Siepmann u. T. Siepmann. Stuttgart, 1986. (Reihe Sprache u. Geschichte, 10.)
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